WM-Vierter René Adiyaman
(NRW, U16) im Interview
Ein Spieler mit DWZ 1784,
der sich über die Landesmeisterschaften nicht qualifiziert hat und dennoch
einen Freiplatz für die DEM U16 erhält? Im Fall von
René Adiyaman völlig
legitim, denn der 16-jährige aus dem sauerländischen Arnsberg ist sehbehindert
und der erste Spieler, der von unserer neuen Freiplatzregelung begünstigt ist.
Demnach erhält der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenschachbund (DBSB) für
jede Altersklasse der Deutschen Jugendmeisterschaften einen Sonderfreiplatz,
der das bestehende Freiplatzkontingent nicht beeinträchtigt. Nominiert werden
dürfen Spieler, deren Spielstärke dem Niveau der jeweiligen Altersklasse
entspricht. Wir sprachen mit René über seinen Werdegang und Blindenschach im Allgemeinen:
René, bist du bereits von
Geburt an blind?
Ich bin in Alter von neun
Monaten erblindet und gelte mittlerweile mit einem Restsehvermögen von zwei
Prozent offiziell als blind, kann aber noch Schemen und Umrisse erkennen.
Wie beeinträchtigt dich
das im Schach?
Blitz- und Schnellschach
kann ich ohne Hilfestellung spielen. Muss ich jedoch länger als eine Stunde
aufs Brett schauen, wird das zu anstrengend; selbst die Unterschiede zwischen
Springer und Läufer verschwimmen manchmal. Um mich mehr auf die Partie als auf
die Figuren konzentrieren zu können, benötige ich mein Hilfsbrett.
Also muss es auch
unheimlich mühsam für dich gewesen sein, Schach zu lernen.
Das war nicht besonders
schwer, als mein Vater mir im Alter von fünf Jahren Schach im Urlaub
beigebracht hat. Problematischer war es, einen geeigneten Verein für mich zu
finden, bis ich mit acht, neun Jahren endlich dem SV Welper 1922 beigetreten
bin, wo ich umkompliziert aufgenommen wurde.
Gab es schon mal Probleme
in Bezug auf Schach und deine Behinderung?
Zweimal traf ich auf
überforderte Gegner, einmal bei einem Open, als der Gegner Remis in klar
schlechterer Stellung beantragte, weil ich alle Figuren auf meinem Hilfsbrett
angefasst habe, und einmal bei einem Mannschaftskampf, als mein Vater, der von
der FIDE dafür legitimiert wurde, mir bei der Aufnahme der Züge half und mein
Gegner sich einfach weigerte, weiterzuspielen. In beiden Fällen habe ich
allerdings, wie auch sonst im Schach, sehr gute Erfahrungen mit Turnierleitern
und Schiedsrichterngemacht; hatte ich Schwierigkeiten, wurde mir bislang immer
geholfen. Auch die meisten meiner Gegner verhielten sich spätestens dann fair,
wenn sie begreifen, dass mein Verhalten am Brett nicht zu ihrem Nachteil
führt.
Erzähl doch mal, wie du deine
Züge aufzeichnest - und überhaupt, wie du trainierst!
Ich schreibe natürlich
nicht mit, sondern nutze meinen „Milestone“, ein Diktiergerät, in welches ich
meine Züge hineinspreche. Auch Training funktioniert bei mir ein wenig anders:
In das übliche Vereinstraining per Demobrett und Flipchart kann ich nicht
einsteigen, weswegen ich mir ein Zusatzbrett aufstelle.
Bei der
Blinden-Juniorenweltmeisterschaft im letzten Jahr bist du sensationell Vierter
geworden. Wie war es denn damals auf Rhodos?
Es herrschte eine gute
Atmosphäre und ich habe über Erwartung gespielt, aber gerade auf der WM ist mir
aufgefallen, dass Schachregeln, die in Partien zwischen Sehenden sinnvoll sind,
auf Blindenmeisterschaften zu Problemen führen können. Ein russischer Gegner fragte
mich etwa, ob er auf meinem Hilfsbrett „mitspielen“ dürfte - wir wussten lange
nicht, ob das legitim ist, doch die Turnierleitung hat das auch hier sehr
souverän lösen können.
Hast du auf der WM den
Kontakt zu anderen blinden Spielern knüpfen und aufrecht
erhalten können?
Natürlich habe ich neue
Freunde gefunden, aber den Kontakt zu pflegen stellt sich als sehr schwierig
dar, nicht nur, weil wir alle schulisch stark eingespannt sind, sondern auch,
weil viele Blinde soziale Plattformen wie Facebook nicht nutzen können.
Immerhin treffe ich den anderen deutschen WM-Teilnehmer, Mirko, immer noch
regelmäßig auf Veranstaltungen des DBSB. Meinen ausländischen Freunden
werde ich wohl erst auf der nächsten Blinden-WM
2013 begegnen können
Sind im DBSB viele Kinder
und Jugendliche organisiert?
Leider nicht. Vielen
Blinden, die noch weniger sehen als ich, ist der Lernprozess zu lang und im
Gegensatz zu Sportarten wie Fußball nicht intuitiv. Außerdem beschäftigen sich
viele blinde und sehbehinderte Jugendliche so sehr mit ihren gesundheitlichen
Problemen - etwa eine Verschlechterung ihrer Sehkraft - und haben damit gar
keine Zeit für ein Hobby.
Wie gefällt dir die DEM
und was strebst du hier an?
Es ist sehr schön hier,
auch wenn ich nicht optimal spiele, und ich will mindestens die 50%-Marke
erreichen!
Quelle: Deutsche
Schachjugend, 31.05.2012
Ergänzung und Nachtrag:
In der Abschlusstabelle
der Altersklasse U16 rangiert Rene auf Platz 34 mit 2,5 Punkten.