(Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung vom 10.12.2011)
Der Stückener Mirko Eichstaedt ist Champion im Blinden-Schach und ein Mathe-Ass
Mirko Eichstaedt aus Stücken ist ein leidenschaftlicher Schachspieler und er ist seit seiner Geburt fast blind. Mit dem 14-Jährigen und seiner Mutter Jana Eichstaedt sprach Jens Steglich.
MAZ: Wie spielt man Schach, wenn man die Brettaufteilung und die Figuren
nicht sehen kann?
Mirko Eichstaedt: Die schwarzen Figuren haben oben einen Stift, damit man
sie von den weißen unterscheiden kann. Zusätzlich sind die schwarzen Felder
etwas erhöht. So kann man alles mit den Fingern ertasten. Die Figuren werden
bei einem Blindenschachspiel auch ins Brett hineingesteckt, damit sie nicht
umfallen können.
Wie bekommt man die Züge des Gegners mit?
Mirko: Die Züge werden angesagt, der andere wiederholt sie, um
Missverständnisse zu vermeiden. Man sagt zum Beispiel: "Springer Felix 3".
Wer hat Dir das Schachspielen beigebracht?
Mirko: Mein Opa.
Jana Eichstaedt: Mirko war vier Jahre alt und ein sehr lebhaftes Kind. Der
Opa hatte dann mit dem Schach eine Möglichkeit gefunden, ihn ruhig zu
stellen.
Du bist von Geburt an blind?
Mirko: Auf einem Auge sehe ich nichts, auf dem anderen zehn bis 16 Prozent.
Jana Eichstaedt: Es ist eine Schädigung des Sehnervs, die man Kolobom nennt.
Fachleute vermuten, dass es genetisch bedingt ist. Ein Onkel meines Mannes
sah nur auf einem Auge. Er könnte diese Schädigung gehabt haben.
Es gibt medizinisch keine Möglichkeit, das zu ändern?
Jana Eichstaedt: Das ist keine Erkrankung, es ist eine Behinderung.
Medizinisch ist da derzeit nichts zu machen.
Was haben Sie als Mutter gedacht, als Sie davon erfuhren?
Jana Eichstaedt: Mirko war acht Wochen alt, als ich mit ihm zur Augenärztin
ging, weil mir seine Pupillen zu klein vorkamen. Sie stellte ein
Augenzittern fest und hatte den Verdacht, dass der Sehnerv geschädigt ist.
Mirko sollte sofort nach Berlin in die Charité. Die Oberärztin dort sagte:
"Seien sie froh, wenn ihr Sohn überhaupt etwas sehen wird." In der Regel
hätten Kinder mit dieser Schädigung auch eine geistige Behinderung, meinte
sie. Für mich brach eine Welt zusammen. Ich wollte aber auch zeigen, dass
sich das Kind trotzdem gut entwickeln kann.
Heute spielt Mirko Schach.
Jana Eichstaedt: Er lernt in einer Leistungs- und Begabtenklasse im
Potsdamer Leibniz-Gymnasium. Und er hat in seiner Altersklasse dreimal die
Potsdamer Stadtolympiade in Mathematik gewonnen.
Was waren die größten Erfolge im Schach?
Mirko: Bei der Juniorenweltmeisterschaft im Blindenschach bin ich 13.
geworden.
Jana Eichstaedt: Das war die U-21-Weltmeisterschaft.
Mirko ist ja viel jünger. Spielt da etwa der 21-Jährige gegen den
13-Jährigen?
Jana Eichstaedt: Ja. Er war als damals 13-Jähriger mit der jüngste. Mirko
war dieses Jahr aber auch beim 2. Baltic Sea Braille Chess Cup dabei. Als
jüngster im Feld hat er das Turnier gewonnen und den großen Favoriten
geschlagen.
Wie erschließt man sich die Welt, wenn man sie nicht oder fast nicht sehen
kann?
Mirko: Ich kann auf dem einen Auge ja noch ein bisschen was sehen und mich
so auch orientieren. Wie Blinde das machen, weiß ich nicht.
Jana Eichstaedt: Ich habe mal im Internet recherchiert. Wenn ein Flugzeug
ankommt, gucken Blinde in die richtige Richtung, weil sie es hören. Sie
kompensieren also vieles mit den anderen Sinnen. Bei Mirko habe ich
festgestellt, dass er sich viel an Farben orientiert. Es war mal ein
Nachbarskind in ähnlichen Farben gekleidet wie seine Schwester. Da ist er zu
dem Mädchen hingegangen. Und er merkt sich unheimlich viel, etwa Wege, die
er gelaufen ist. Er erkennt auch am Klang der Stimme, wer es ist. Mirko
kompensiert viel über das Gedächtnis.
Mirko: Unter blinden Schachspielern gibt es viele Mathematiker und
Informatiker.
Was willst Du mal machen?
Mirko: Mathematik studieren.
Was macht man danach?
Mirko: Leute, die rechnen können, werden immer gebraucht. Etwa zum Auswerten
von Statistiken für Banken oder den Wetterdienst.
Wenn die Lehrerin etwas an die Tafel schreibt - wie bekommst Du das mit?
Mirko: Es gibt eine Tafelbildkamera. Man richtet die Kamera auf die Tafel
und sieht am Laptop, was auf der Tafel steht.
Mit so einem Gerät könnte man gut beim Banknachbarn "spicken"?
Mirko: Das könnte man. Aber der Lehrer sieht ja, wohin die Kamera geschwenkt
ist.
Jana Eichstaedt: Zum Lesen hat Mirko eine elektronische Lupe, die er auf
Texte legt. Beim Schreiben braucht er länger. Bei Klassenarbeiten bekommt er
deshalb einige Minuten mehr Zeit. Wie viel, ist im Nachteilsausgleich
geregelt.
Was ist das?
Jana Eichstaedt: Beim Nachteilsausgleich ist festgelegt, wie viel Zeit man
als Schüler mit Handicap mehr braucht, um mit den anderen Schülern mithalten
zu können. Wie viel Minuten ein Schüler zusätzlich bekommt und welche
Hilfsmittel er benutzen darf, regelt der Förderausschuss, in dem Vertreter
der Schule, Eltern und die Sehbehindertenbeauftragte sitzen.
Mirko: Im Sport müsste ich bestimmte Dinge nicht mitmachen, aber ich versuch's
häufig trotzdem. Laufen ist kein Problem. Wir haben einen Sportplatz, den
ich genau kenne. Da laufe ich auf der Bahn schön in der Mitte.
Die Landesregierung will Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen
lassen. Bei Mirko funktioniert es.
Jana Eichstaedt: Bei Mirko geht das, weil er ehrgeizig ist und die Schule
mitspielt. Für Mirkos Klasse gibt es einen festen Klassenraum, der heller
beleuchtet ist und einen Kabelanschluss für seine Tafelkamera hat. Es
funktioniert im Einzelfall. Ich glaube aber nicht, dass eine Schule es
leisten kann, viele Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen gut zu
betreuen. Ich sehe den Plan skeptisch.
Mirko, hast Du einen Traum?
Mirko: Ich wünsch' mir, dass Technik und Medizin einmal so weit sind, dass
sie mir helfen können, richtig zu sehen.