Knüllwald vom 27.5. bis 5.6. (von Klaus-Jörg Lais, Saarbrücken) Hallo erst mal... Man stolpert ziemlich unbeholfen da rein. "Guten Abend meine Herrschaften, Klaus-Jörg Lais hier vom Deutschen Schachbund" höre ich mich wie von Ferne selber sagen und komme mir dabei ziemlich blöd vor. Wieso sage ich Herrschaften? Meine Damen und Herren wäre besser gewesen, es sind nämlich viele Damen am Tisch. "Hier ist der Hanswurst von der Deutschen Post" hätte nicht blöder klingen können, wenn man so vor der Runde steht. Und plötzlich verstummt jedes Gespräch, denn man hat mich ja nicht kommen sehen. Ich bin zu Gast bei der Deutschen Einzel-Meisterschaft des Blinden- und Sehbehinderten- Schachbund in ganz eigenem Interesse, denn ich hatte mich darauf mit viel Neugier schon lange vorher gefreut. Wie spielen Blinde untereinander Schach? Welche Möglichkeiten, welche Stärken und Schwächen gibt es? Wie ist der Umgang miteinander? "Ich mache für den DSB die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit" schiebe ich nach und fühle mich gleich noch mal viel hilfloser und das klingt ja wohl völlig bescheuert, denke ich. Wie jetzt all die Leute hier begrüßen? Rundherum laufen und die Hand zum Gruß ausstrecken wird nicht reichen und wohl auch irre lang dauern. Kann man sich etwas unter meinem Namen vorstellen? Ist man vorbereitet? Wer sieht mich denn überhaupt? Wer sieht mich nur als Schatten oder Umriss? Also klopfe ich laut auf den Tisch zur Begrüßung und sage "Zur Begrüßung klopfe ich mal laut auf den Tisch". Geht schon viel besser und alle lachen zurück. Ludwig Beutelhoff empfängt mich herzlich und wir kommen gleich ins Gespräch. Morgen soll sie starten, die deutsche Einzelmeisterschaft. Hier sitzt gut und gerne die Hälfte der Teilnehmer gesellig beieinander. Das ist ungewohnt in den Turnieren, bei denen ich sonst bin. Den DBSB drücken große Nachwuchssorgen. Es gibt kaum noch spezielle Blindenschulen, unter deren Schüler sich viele potenzielle Mitglieder finden ließen. Aber selbst in der bekanntesten Blindenschule Marburg, gibt es zur Zeit leider keine Schachgruppe. Ich habe tausend Fragen, aber versuche, das erst mal zu verbergen. Welche Voraussetzungen sind wichtig - wer spielt? "Die Sehbehinderung darf nicht weniger als 10% betragen, das ist der internationale Standard. Früher waren es 5%," erfahre ich. Blinde und Sehbehinderte spielen auch andere Bedenkzeiten als bei der Deutschen Meisterschaft, allerdings nichts unter 30 Minuten. Ich erfahre auch etwas über Stichkämpfe: Im Pokalwettbewerb zum Beispiel, entscheidet bei Beteiligung des DBSB bei Remis oder Unentschieden nach Berliner Wertung immer das Los. Schnellschach oder Blitz gibt es dann nicht. In diesem Jahr wird die Einzelmeisterschaft übrigens erstmals in einem offenen Modus ausgetragen bei Schweizer System. Sonst gab es früher immer die Vorqualifikationen und man spielte schließlich in elf Runden bei zwölf Teilnehmern vollrundig. Mal sehen Anderntags begrüßt der sehende Turnierleiter Herbert Lang die Teilnehmer. "Zu mir, zu mir", ruft Anton Lindenmair zu Beginn des ersten Spieltags durch den Raum, als ihm gewahr wird, das sein heutiger Gegner Fred Schulz gerade den Raum betritt. Zu den vielen merkwürdig umständlichen Dingen, die man hier beobachtet, gehört das ständige gegenseitige Beschreiben der örtlichen Lage. Manfred Müller als Organisator der diesjährigen Meisterschaft, beschreibt den Turniersaal und die Umgebung ("So, liebe Freunde. Zur Situation hier...") zuallererst: Wo sind die Toiletten? Wie groß ist der Raum? Wie sind die Tische angeordnet? Wo ist die Tür nach draußen? Wo dürfen die Raucher hin? Wahrscheinlich kennt jeder von uns einen Blinden. Wir haben uns auch schon Gedanken gemacht, wie das wohl sein könnte. Aber verbringen Sie nur mal eine Stunde mit einer Gruppe blinder Menschen: Die besonderen Umstände brechen auf Sie herein, als ob Sie gerade erfahren, dass die Schwerkraft im Weltall außer Kraft gesetzt ist. Nichts. Nichts ist selbstverständlich. Mit Blinden auch nur drei Tage zusammen zu sein, erfordert einiges an Aufmerksamkeit. Sie mögen sich für ein Gewohnheitstier halten, aber Blinde sind mehr als das. Sie sind echte Dinosaurier der Gewohnheit. Wenn Ihre ganze Welt dadurch bestimmt wird, dass Sie unfähig sind, die augenscheinlichsten Sachen wahrzunehmen, dann möchten Sie ganz genau wissen, wo sich ihre Sachen befinden. Sie möchten auf dem gleichen Stuhl sitzen, den gleichen Nachbarn haben, denselben Aufzug nehmen und ihr Glas genau dort vorfinden, wo Sie es zuletzt abgestellt haben. Eines der schlimmsten Dinge, die man einem blinden Menschen antun kann, ist ihre unmittelbare Umgebung zu verändern. Ich meine das nicht im bösartigen Sinne, das würde niemand tun. Aber stellen wir uns vor, Sie wollten bloß ein bisschen behilflich sein und die in Ihrem Auge auffallende Unordnung beseitigen: Sie heben den Blinden-Stock auf, der anscheinend unter den Tisch gefallen ist. Sie gießen hilfsbereit das Getränk im Glas nach und stellen es nahe heran, damit der gute Mensch es direkt vor sich hat. Sie schließen die Tür, weil es zieht und rücken den Stuhl neben ihm an den Tisch, damit sich der gute Mensch dort abstützen kann beim Aufstehen. Was passiert aber nun tatsächlich? Der Blinde wird zunächst beim Aufstehen nach dem Stuhl nebenan mit Verve ins Leere greifen. Wenn er dann nicht gefallen ist, wird er sich womöglich am Tisch festhalten, wo das von Ihnen frisch gefüllte Glas steht. Sollte er auch diese Hürde genommen haben, ohne alles zu verschütten, wird er sich erfolglos nach unten bücken, um den Stock zu suchen, den er genau dort ja abgelegt hat. Aber vielleicht sind Sie noch schnell genug bei ihm, bevor er das Gleichgewicht verliert und haben auch das wieder repariert. Nun vergessen Sie bitte nicht, auch die Tür noch mal zu öffnen, denn sonst läuft der gute Mensch da einfach dagegen. Es gibt für Blinde einfach eine völlig andere Definition der Ordnung. Und die sieht nun mal so aus, dass man weiß, was man wo vorfindet. Aber wie das wiederum für uns aussieht, spielt in dieser Ordnung keine Rolle. Achtung, Tiefflug! "Springer Anton 2" ruft Gert Schulz durch den Raum. Reinhard Niehaus, der an der anderen Seite des Spielraums sitzt, scheint zu entgegnen: "Kurze Rochade". "Kurze Rochade" wiederholt Jürgen Pohlers, bevor Johann Pollinger "Springer Emil Vier" ausruft. Also daran muss man sich erst einmal gewöhnen. Gerade in der Anfangsphase wird der Raum durchflutet von Zugansagen und wie ein Echo wiederholt der Gegenübersitzende den Zug, damit keine Missverständnisse entstehen. Das muss per Regel auch so sein. Ich stelle mir vor, wie das auf einen Nichtschachspieler wirkt. Und dann fliegen diese Satzfetzen wie UFOs durch den Raum. Oder wie codierte Formeln einst durch die Leitungen der Geheimdienste. Springer Dora Sieben. Achtung. Pollenflug! Läufer schlägt Cäsar Drei! Vorsicht. Infektionsgefahr. Dame schlägt Berta Vier. Arme Berta. Die Finger des vollständig blinden Dieter Bischoff tasten sich auf dem Blindenschachbrett vor. "Läufer schlägt Friedrich Fünf" sagt er. Das hat er gut gesehen, denke ich. Kann man das konzentrationstechnisch überhaupt durchstehen? Bei uns im sehenden Schach ist es doch totenstill. Da ist jedes Stuhlknarzen, jede ruckartige Bewegung störend. Die Zugansagen seien aber absolut unproblematisch, so werde ich aufgeklärt. Bloß jedes andere, vorher nicht erwartete Geräusch oder Unterhaltungen sind störend. Zugansagen werden ausgefiltert, sozusagen. Ich würde hier jedenfalls keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder ruft jemand, immer wieder rattert die Blista, wie ich sie nenne. Denn das steht da auf jedem Gerät drauf. Blista. Das ist dieses seltsame Sieben-Tasten-Gerät, mit dem notiert wird. Reine Nervensache Dame Emil Sechs, das klingt klackadiklickadiklack. Ich will es nicht überstrapazieren, aber mir scheint, die haben hier Nerven wie Stahlseile. Später erfahre ich, dass Blista für Blindenstudienanstalt steht und diese technisch erbärmlich einfachen Geräte mehrere hundert Euro kosten. Eigentlich heißt das Ding ja "Mini-Picht". Picht, wegen eines österreichischen Blindenlehrers aus dem 19. Jahrhundert, der diese Art Schreibmaschine für die 6-Punkt-Blindenschrift erfunden hat. Die Schachuhren zu drücken ist auch für Blinde leicht, aber was gibt die Uhr eigentlich aus? Nach einer guten Weile fällt auf, dass die Uhren nicht nur obenauf in Braille beschriftet sind, sondern auch gar keine Gläser wie die normalen Uhren haben. Hinzu kommt für jede Stunde eine Brailleziffer und so kann man anhand des Tastvermögens die verbrauchte Bedenkzeit erfahren. "Probieren Sie's mal" fordert mich Herbert Lang auf. Ich schließe die Augen. Meine Wurstfinger verschieben schon beim ersten Versuch den Minutenzeiger. Das Fallblättchen. Groß, Rot, metallisch, in V-Form. Der Turnierleiter klärt mich auf: Links wird gefühlt, wie weit sich das Blättchen vom Fallen entfernt befindet. Aha. Ich teste noch mal. Für mich ist es schon eine anständige Erfahrung, die V-Form zu tasten. Herbert Lang kam "wie die Jungfrau zum Kinde", wie er selber sagt, zum Blindenschachbund. Der damalige Vorsitzende des DBSB fragte im Kreis Heidelberg nach einem Helfer für die Turniere. Darauf hat er sich gemeldet und seit 1976 begleitet Lang nun schon den DBSB. Lang gehört sozusagen zum Inventar. "Schreiben Sie: Mädchen für alles", lacht er scherzhaft. Und das stimmt wohl auch. Er sitzt von Anfang bis Ende der Spielzeit mit dabei, kümmert sich um Ergebnisse und Auslosung, gibt Hilfestellungen im organisatorischen Bereich, zeigt wo die Spiele sitzen sollen, beschreibt die Umgebung, notiert in Zeitnot mit, hilft, wo er kann. Ganz nah dran Volkmar Lücke gehört zur Sehbehindertengruppe. Das bedeutet, er hat noch ein eher rudimentäres Restsehvermögen. "Wenn es doch hier wenigstens heller wäre!" schimpfte er beim Frühstück morgens, als er unter den Wurstscheiben nach der Butter forschte. Sollte das ein Witz sein? So ein Blindenwitz, den man sich nur erlauben kann, wenn man selbst blind ist? Aber ich bin es, der sich hilflos vorkommt, als ich ihm beim Butterforschungsversuch zusehe und das Messer links, vor, rechts, dirigiere. Er macht sich da jedenfalls nichts draus. Später im Spielsaal ist es hell. Dafür hat er selbst gesorgt. Denn zu seiner Ausrüstung gehört neben dem Blindenschachbrett und dem riesigen Notationsformular, auf dem gerade mal 30 Züge stehen, eine Lampenkonstruktion, die gleißend helles Licht aufs Brett wirft. So kann er etwas sehen und seine konzentrierte Denkhaltung am Brett sieht jetzt kein bisschen anders aus, als die von all den vielen Schachspielerbildern, die wir kennen. Die Blistas, pardon Mini-Pichts, gibt es in einer Menge Ausführungen. Johann Pollinger hat deutlich das älteste Modell. In dieser Version sieht das Teil ein bisschen so aus, wie eine antike Miniaturschreibmaschine. Andere Modelle haben Streifen-Notationen. Mit jedem Klickadiklackadiklick kommt ein bisschen mehr Streifen mit Punkten drauf da raus. Ich betrachte die Punkte - und erkenne gar nichts. Was für eine Ignoranz gegenüber Sehbehinderten. Das ist deren einzige Schrift und Du erkennst nicht mal ein A, denke ich. Aber Reinhard Niehaus, der - ebenfalls restsehend - eigentlich am Nachbartisch spielt. Er fasst im Vorbeigehen den Streifen an, prüft, was zuletzt gezogen wurde. Dann beugt er sich ganz nah zum Brett, um zu kiebitzen. Er ist so nah über den Figuren, dass ich Angst habe, jemand könne vorbeikommen und ihn unabsichtlich anstoßen. Jede einzelne Figur scheint er zu prüfen. Nach gut einer Minute angestrengtem Makroblick ist die Situation wohl geklärt. Er wandert weiter und prüft das nächste Brett auf gleiche Weise. Komisch sieht das aus für uns Sehende. Später erzählt mir Pollinger, dass er deswegen eigentlich selten vom Platz aufsteht, denn kaum ist man raus aus dem Saal oder geht auch nur ein paar Schritte, sitzt schon der nächste Blinde auf dem Platz und beugt sich elend lang zu Brett und Mini-Picht herunter: Um zu kiebitzen. Tastvermögen Es gibt noch weitere Notationsmöglichkeiten. Manche Restsehende haben diese riesigen Blätter vor sich liegen, sie benutzen große Lupen und schreiben in riesigen Buchstaben. Bischoff benutzt so was wie ein Diktaphon, spricht seine Notationen auf. Hans Jagdhuber hat ein Plastikbrett, das mich - Verzeihung - an Kinder-Spielzeug erinnert. Ein gelbes Stück Plastik voller kleiner Kästchen, in die er mit einem blauen Plastikstift selbst die Punkte setzt. Alle spielen auf Blindenschachbrettern. Die gibt es aber in vielen Ausführungen. Die meisten von ihnen haben unterschiedlich hoch gelegene Felder, um Schwarz und Weiß besser zu unterscheiden. Die schwarzen Figuren tragen einen kleinen Nagel obenauf. "Berührt - geführt", fällt mir ein, wenn die Finger die Figuren abtasten - und das gibt es tatsächlich! Wenn eine Figur aus dem Steckloch genommen wurde, gilt sie als berührt und wenn sie woanders wieder eingesteckt wurde, als dorthin geführt. Eine Korrektur ist dann nicht mehr erlaubt, klärt mich Elisabeth Fries auf. Sie hat bei weitem den schönsten Figurensatz. Natürlich passiere das trotzdem ab und an, Kontrolle ist da schwer. Viel mehr passiere jedoch bei sehend-nichtsehenden Vergleichen. Das geht dann vom fehlenden Nichtansagen der Züge über das Gegendrücken der Uhr, obwohl der Sehende selbst am Zug ist, bis hin zum Analysieren per Figurenrücken. Wo der Geist schwach ist, ist oft der Betrug willig. Aber zumindest das mit dem Uhren-Gegendrücken geschieht sicher unabsichtlich. Man führt ja als Sehender ebenfalls den Zug des anderen aus und obwohl inzwischen die eigene Zeit läuft, die der Blinde in Gang gesetzt hat, drückt man reflexartig zurück. Elisabeth ist die einzige Frau unter den Teilnehmern dieser Meisterschaft. Der Frauenanteil ist im DBSB noch niedriger, als im Deutschen Schachbund. Gerade aktive Teilnehmerinnen gibt es nur ganz wenige. Was Sie schon immer über Blindenschach wissen wollten... Frank Schellmann ist fertig mit Spielen. Er tappst durch den Raum, langsam, sich nach allen Seiten hin vergewissernd, dass da kein Hindernis auftaucht. Auch er sieht noch. Etwas. Ein komischer Vergleich kommt mir in den Sinn: Sind sehbehinderte Schachspieler den Blinden gegenüber grundsätzlich im Vorteil? Scheint mir kritisch, die Frage. Wissen will ich es trotzdem. Ich hake nach. Ja, diese Diskussion gäbe es sicher grundsätzlich, aber sie wird deswegen doch nicht dauernd geführt! Was sollte das auch nützen? Wie kann man nur so dämliche Fragen stellen, ärgere ich mich über mich selbst. Niehaus sagt: Emil Fünf. Ins Leere. Denn es sitzt niemand gegenüber. Jürgen Pohlers, der unentwegt auf Wanderschaft ist, sitzt mal wieder gar nicht am Brett. Natürlich sagt man den Zug dann trotzdem. Aber es hat erneut etwas Komisches. Denn der Gegenübersitzende wiederholt ihn gewöhnlich. Die Meisterschaften werden mit 2 Stunden für 40 Züge plus eine Stunde für den Rest gespielt. Eine übliche Zeit für das Turnierschach also. Was aber passiert eigentlich in Zeitnot? Beide Spieler müssen doch dann wissen, wie viel Zeit übrig ist. Manchmal, erzählt Lang, wird dann laut gefragt: "Wie viel Zeit habe ich noch" und ein Betreuer, falls gerade zur Stelle, darf das dann schon mal sagen. "Aber nicht dreimal nacheinander", ergänzt Lang, "das wird mir dann auch zuviel und ich ermahne". Und dann müssen auch die Finger von der Uhr wegbleiben, in der Hektik könnte etwas verschoben werden oder das Blättchen fallen. Ich stelle mir vor, wie stressig das sein muss, wenn plötzlich Zeitnot an mehreren Brettern ist. Frank Schellmann erzählt mir von echten Zeitnotschlachten. Da fällt auch schon mal ne Uhr um oder das Getränk ergießt sich über Tisch und Stuhl. Und am zweiten Turniertag erlebe ich es selbst, ausgerechnet bei Frank. Er ist mit wenigen Minuten auf der Uhr so nervös geworden, dass er seinen Zug ausführt und dann nicht mit links die Uhr drückt, sondern mit rechts neben den Tisch ins Leere hämmert. Erstaunlicherweise ist das Zeitgefühl unter den Kandidaten hier gar nicht so ausgeprägt, wie man vermuten sollte. Es gibt oft horrende Fehler, wenn die Konzentration nachlässt. Nun, bei uns auch, möchte man entgegnen. Zeitnot hat hier aber seltener die psychologische Bedeutung, wie im sehenden Schach. Es kommt auch seltener dazu. Fair-Play "In der Regel gibt es keinen Stress untereinander", sagt Lang. Aber bei Duellen mit Sehenden kommt das häufiger vor. Wie sonst ist zu erklären, dass beispielsweise Volkmar Lücke erzählt, sein mit Meisterehren ausgestattetes, sehendes Gegenüber sagte die Züge in Zeitnot nicht mehr an? "Was wurde gezogen?", musste er ständig fragen. Bei jedem einzelnen Zug. Prompt verlor Lücke damals, obwohl er viel besser stand. Auch der mehrfache deutsche Meister Dieter Bischoff weiß so eine Geschichte zu erzählen. "Ich hatte mich gleich gewundert, dass jemand wie GM Oleg Romanischin einen Assistenten haben wollte im Spiel gegen mich. Er, als sehender Großmeister mit gut 300 Wertungs-Punkten mehr, verlangt gegen mich, den Blinden, eine Assistenz. Von mir aus, dachte ich. Aber der Schiedsrichter als Assistent reagierte in Zeitnot völlig falsch." Während der Großmeister sehen konnte, was Bischoff auf seinem Brett bewegte, noch bevor er die Figur zum Zielsteckpunkt führte und den Zug sagte und dann die Uhr drückte, musste Bischoff warten, bis die Antwort kam. Und das ging dann so: Der GM führte blitzartig seinen Zug aus und hämmerte auf die Uhr. Während des Blinden Zeit schon längst wieder lief, informierte der Assistent Bischoff über den Zug, dann erst konnte Dieter die Figur umstecken und danach erst neu kalkulieren. Das kostete für jeden Zug in hoher Zeitnot so viele Sekunden, dass er eine klare Remisstellung noch weggab. "Also wenn schon Assistenz", beschwert sich Bischoff, "dann doch bitte jemand, der Ahnung von den Spielregeln hat." Ein anderes Mal schlug ihm ein Schiedsrichter beim Versuch, die Uhr zu drücken, auf die Hand. Da ist er dann einfach aufgestanden und gegangen, denn "schlagen lassen, das wollte ich mich beim Schachspielen nicht". Miteinander Die Kommunikation untereinander ist auch für mich gewöhnungsbedürftig. Die Visualisierung spielt beim Unterhalten eine große Rolle. Zum Teil reden beim gemeinsamen Abendessen drei bis vier Schachfreunde gleichzeitig auf mich ein ohne zu ahnen, dass auch die anderen Aussagen mir gelten. Da das gegenseitige Ansehen beim Ansprechen unmöglich ist, weiß man nicht, wem die Worte gelten. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, dass alle in die gleiche Richtung reden. Aber auch die 1:1-Situation kann kompliziert und komisch zugleich sein. Ein typischer Dialog bei einer unvermittelten Begegnung hört sich etwa so an: "Herbert, weißt Du wie Formel Eins ausgegangen ist", fragt mich Hans-Peter Kuhlmann. "Herbert steht dort hinten am Fenster, aber ich weiß es nicht"., sage ich "Bist Du fertig mit spielen?" "Nein.", sage ich. "Ich sitze hier und tippe meine Berichte" "Ach, Sie sind das. Entschuldigung". Später unterhalte ich mich mit einem anderen Spieler über seine Gewinnchancen. "Chancenlos", sagt er. "da könnte ich genauso gut gleich aufgeben und Formel 1 hören". Formel 1 hören. Das kann man offensichtlich und es dabei spannend finden, denn es gibt einige Motorsportfans hier. Die eigentlich theoretisch notwendige Gleichstellung zu den Normalsehenden ist trotzdem graue Theorie. Es gibt so viele Benachteiligungen, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann, erfahre ich in vielen Dialogen. Matthias Steinhart erzählt: "Rein im schachlichen Bereich gibt es unerhört viel, was sich zu verbessern lohnt". Dass es noch immer keine Uhr gibt, die den Anforderungen hier gerecht wird, ist zum Beispiel so eine Sache. Gerade jetzt mit der immer weiter um sich greifenden, neuen Bedenkzeit, bei der pro Zug Zeit addiert wird. Wie soll der Blinde da noch wissen, wie der Uhrenstand ist? Es müsste also Uhren geben, die sozusagen mitteilsam sind. Bei Armbanduhren geht das ja auch. Dabei benötigt man nicht viel mehr als eine Sprachausgabe und eine entsprechende Schnittstelle zur Uhr. Doch die Produktionskosten sind offensichtlich astronomisch in so kleiner Stückzahl. Einmal habe es ein Angebot eines Holländers zur Herstellung gegeben, doch der wollte damals 20 bis 30.000 Vorschuss. Auch die ganzen Schachzeitschriften, die müsste es doch auf CD geben, beklagt sich Matthias Steinhart. "Wir brauchen nicht viel mehr, als die Möglichkeit, das noch mal in ein Textformat am Rechner umzuwandeln". Lern-DVDs für Blinde? Fehlanzeige. Wie sollte neben den Notationen der Begleittext übermittelt werden? "Müsste machbar sein", entgegne ich. "Müsste.", antwortet Steinhart. Bei Filmen kann man ja auch eine Begleitspur hinzutun. Und wie wird Internetschach verfolgt? - Überhaupt nicht! Das geht nur über die Fritz-Oberfläche, aber ohne Kommentar. Fritz oder generell die Chessbase-Oberfläche ist die einzige Möglichkeit, Notation am Rechner in eine Sprachausgabe umzuwandeln. Aber eben nur die Notation. Selbstversuch Als ich mir die Stoffserviette als Augenbinde umlege, empfinde ich das gleiche Unwohlsein, wie zu Anfang am ersten Abend bei der Begrüßung. Die Figuren habe ich vorsorglich noch sehend aufgestellt. Mein Getränk weit weg von mir und mein Spielpartner Matthias Steinhart verspricht mir, die Zeit anzusagen, denn er wird sie von der Uhr ertasten. 30 Minuten Bedenkzeit für jeden. Während ich mich völlig hilflos ausschließlich auf die Figuren vor mir und das Spiel konzentriere, tastet Matthias während des Spiels die Uhr, unterhält sich mit dem Nachbarn, gibt mir den Zeitverhältnisse durch und genießt seinen Drink. Zu Anfang spüre ich noch die kleinen Nägel auf den Köpfen der schwarzen Figuren, das Zentrum ist leer, ich kann die erhobenen schwarzen Felder deutlich von den weißen unterscheiden. Die Eröffnung verläuft dank einem angenehmen Verlauf problemlos. Ungewohnt ist, die Figuren des anderen mit von Platz zu Platz zu stecken. Außerdem muss ich mit dem linken Zeigefinger das Steckloch des Feldes ertasten, damit ich die Figur da einigermaßen sicher mit rechts versenke. Ich habe während des Turniers Spieler gesehen, die das einhändig zielsicher auf Anhieb schaffen. Bis ins Mittelspiel geht's noch locker. Doch stellen sich zwei interessante Phänomene ein. Zum einen folge ich den Gesprächen am eigenen Tisch und an denen rundum, anstatt die Konzentration weiter auf dem Brett zu halten. Mit jedem Zug fällt mir das Spielen schwerer. Zum anderen fange ich an, das Ertasten zu ignorieren und mehr meiner Vorstellung zu folgen, also ohne Hilfsmittel blind zu spielen. Ich achte längst nicht mehr auf Figuren mit oder ohne Nägel, ich merke mir einfach alle Figuren und wie die Felder besetzt sind. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass mich meine untrainierte Vorstellungsgabe irgendwann verlässt und so zwinge ich mich, an den Figuren festzuhalten. "Bestimmt ist mehr für mich drin", denke ich, doch jeder weitere Zug lässt trotz Figurentausch meine Aufmerksamkeit schwinden. Dass das für Anfänger normal sei, erzählt man mir erst hinterher. Fast alle haben hier Endspielschwächen. Womöglich, weil die Räume zwischen den Figuren immer größer werden. Und für einen Ungeübten wie mich, sei das schon mal sehr gut. Trotzdem. Meine Kräfte schwinden. Es wird mit zunehmender Zeit immer anstrengender und ich kann schon bald keinen auch nur halbwegs klaren Gedanken zu fassen und dann: Schachlicher Blindflug. Planlos. Ich bin erleichtert, als Matthias mir Remis anbietet, dieses bis dato noch etwa gleiche Endspiel hätte ich glatt vergeigt. Ich bin fix und fertig. Als ich die Augenbinde abnehme, brauche ich gute zwei Minuten, mich wieder an das Saallicht zu gewöhnen. Später, als wir analysieren, sitzt Andreas Ilic neben mir. Wie sich herausstellt, hat Andreas das Spiel hörend verfolgt, ohne (woher auch?) vom Selbstversuch zu wissen. Jetzt aber, wo ich wieder sehe und Matthias weiter tastend analysiert, stellt sich erst die ganze Routine des kiebitzenden Blindspielers heraus. Andreas legt eine komplette Analyse des Spiels hin und überrascht mich mit unzähligen Varianten, von denen die meisten weitaus interessanter sind, als das, was ich gerade zum Ende hin so vor mich hingepatzt hatte. Blind sehen Anton Lindenmair ist einer, der ziemlich viel fürs Blindenschach tut. Er informiert seine Kollegen regelmäßig über Nachrichten aus der Schachwelt, speziell natürlich aus dem Blindenschach. Faktisch mein Pendant. Auch die Webseite des DBSB ist nun unter seiner Regie. Dazu braucht er aber kein Sehvermögen. Mit Programmiersprachen beschäftigt er sich schon ziemlich lange. Er erstellt die Seiten direkt in Programmcode, schreibt sich die kleinen Helferlein, die den Text formatieren und in html umwandeln, selbst. Mit Herbert Lang hat er einen Assistenten, der auch Nachrichten verteilt. Über Google News holt sich Lindenmair viele Anregungen und sucht nach Schachnachrichten, auch den Mediaservice des DSB hat er schon genutzt. Aber woher weiß er, was da steht? Auch das ahnt man: Dumme Frage. Denn es gibt einen Screenreader, der die kompletten Seiten samt Inhalten und Dialogboxen auswertet und dann vorliest. "Ist die Sprachausgabe denn verständlich?" "Früher war es mal ,ne Folter", wirft Vorsitzender Ludwig Beutelhoff ein, "aber inzwischen gewöhnt man sich dran". Einen Bildschirmausschnitt kann man übrigens auch in Sechs-Punkte-Blindenschrift transformieren, das geht mit einer Art Pad, auf dem sich Stäbchen nach oben schieben, und dann kann man das abtasten. Eine Software, die mit dem Pad mitgeliefert wird, sorgt nach der Installation für die abtastbare Ausgabe. Die Sprachausgabe erzählt, wohin bestimmte Elemente, wie pgn-Dateien, geladen oder gespeichert werden. Und genau wie wir Sehende markiert man den Bildschirminhalt und speichert über die Zwischenablage in eine Datei. Nichts leichter als das, lacht Toni. Es gibt übrigens noch mehr Mitteilungsmöglichkeiten, als die regelmäßigen E-mails und die Internetseiten der Lindenmairs und Langs. Eckhard Kröger ist Redakteur des Punktschrifthefts, dass in regelmäßigen Intervallen erscheint. Hier wird quasi mühsam in Brailleschrift getippt und verteilt. Dann ist da noch der Schachexpress. Ein Hörmagazin, dass etwa monatlich erscheint und über Schachereignisse informiert und in dem die Nachrichten verlesen werden. Diese Reportage hier erscheint übrigens auch dort - ich werde sie selbst sprechen. Bis neulich Dienstag, am dritten Turniertag, muss ich leider aufbrechen. Ich habe hier mehr über Blinde und das Schach miteinander gelernt, als je zuvor. Ich habe hochinteressante, intelligente und sympathische Menschen kennen gelernt, von denen man eine Menge lernen kann. Die mit ihrem Handicap auf sehr natürliche und ungezwungene Weise umgehen und die meisten von ihnen sind durchweg fröhliche Zeitgenossen. Ich betone das, weil ich im gewöhnlichen Schachleben immer und immer wieder auf einen sehr großen Anteil an Mitgliedern treffe, die nie mehr lernen werden, dass wir nur miteinander spielen. Die weder verlieren, noch gewinnen können. Die nur schwarz-weiß denken und ebenso sehen. "Dann möchte ich mich mal verabschieden, Herr Lais", sagt mir Peter Staubach, der die Meisterschaft leider nicht mitspielen kann. Wir tauschen ein paar nette Dinge aus und plaudern über die Meisterschaften, das Wetter, den DSB. "Na denn" sagt er, "ich muss nun los". "Ja", sage ich. "Wir sehen uns".