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Schach ohne Berührungsängste

(Quelle: Augsburger Allgemeine (Mindelheim) vom 01.04.2011)

In Bad Wörishofen spielen Blinde gegen Sehende. Figuren und Brett erfühlen 
sie Von Sandra Baumberger


 Matthias Steinhart erfasst die Stellung der Figuren auf seinem Steckbrett 
tastend, der Gegner überträgt seine Züge auf das Standardbrett im 
Vordergrund.
Foto: Foto: bausBad Wörishofen Wenn Matthias Steinhart vor dem Schachbrett 
sitzt, sind seine Finger immer in Bewegung. Sie huschen kundig über Springer 
und Türme, streicheln den Kopf der schwarzen Dame, hasten weiter in die 
Reihe der Bauern und von dort auf die Felder des Bretts. Die schwarzen sind 
wenige Millimeter erhaben, damit Matthias Steinhart sie von den weißen 
unterscheiden kann. Denn sehen kann er sie nicht. Er ist blind.

Auf den ersten Blick fällt das kaum auf. Erst beim Näherkommen bemerkt man 
sein kleines Steck-Schachbrett neben dem Standardbrett des sehenden Gegners, 
die Blindenschreibmaschine, mit der er die Züge notiert, die Uhr, deren 
Zeiger man befühlen kann, die kleinen Nägel im Kopf der schwarzen 
Schachfiguren, die sich so von den weißen abheben. Zusammen mit elf 
Mitstreitern vom Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Schachbund, darunter 
die Nationalmannschaft, nimmt Matthias Steinhart am ChessOrg Schachfestival 
in Bad Wörishofen teil, das heute zu Ende geht.

Abgesehen von dem eigenen Steckbrett - der Sehende überträgt die Züge des 
Blinden auf sein Brett - und der Erlaubnis, die Figuren auch außerhalb des 
Zugs berühren zu dürfen, gibt es für sie keine Sonderregeln. Anders sind 
lediglich die Ausstattung - manche benutzen zur Aufzeichnung ein 
Aufnahmegerät und eine elektronische Uhr mit Zeitansage - und die 
Anforderungen an die Konzentration. "Ein Sehender kann die Stellung 
innerhalb von Sekunden erfassen", erklärt der Trainer der Blinden- und 
Sehbehinderten Nationalmannschaft, Wilfried Bode, ein Sehender. "Tasten ist 
langsamer und anstrengender. Ein Blinder muss mehr aus dem Gedächtnis 
spielen." Doch auch vom d sehenden Gegner werde etwas verlangt: Er muss 
entgegen der sonstigen Gewohnheit seine Züge ansagen, damit sie der Blinde 
auf sein Steckbrett übernehmen kann. Das klingt unproblematischer als es im 
Spielbetrieb mitunter ist. Bei einem internationalen Turnier traf der 
amtierende Deutsche Meister im Blinden- und Sehbehindertenschach, Oliver 
Müller, beispielsweise auf einen Gegner, der ausschließlich Spanisch sprach. 
Bei zwei sehenden Spielern wäre das unerheblich. In Müllers Fall musste ein 
Dolmetscher aushelfen. Und dann gibt es auch Gegner, die sich einfach 
weigern, die Züge anzusagen oder die des Blinden auf ihr Brett zu 
übertragen. Für solche Fälle gibt es Assistenten, die allerdings rar gesät 
sind. "Der sitzt schließlich die ganze Partie rum und langweilt sich", sagt 
Müller. "Man ist deshalb immer ein bisschen auf die Mitarbeit des Gegners 
angewiesen." Oder man ist so schlagfertig wie sein Kollege Dieter Riegler, 
achtfacher deutscher Meister. Der hatte einen störrischen Gegner einfach 
gefragt, ob er mit ihm tauschen wolle. Und schon konnten sie spielen. Beide 
betonen, dass solche Zwischenfälle recht selten sind. Die einzigen sind es 
aber nicht. Denn Dieter Müller zum Beispiel kann noch ein wenig sehen. "Das 
ist kein Problem, solange man immer schön verliert", sagt er ein wenig 
bitter. Doch wenn er gewinnt, heiße es schnell: "Der sieht doch, der hat 
sich die Qualifikation über den Blinden- und Sehbehinderten-Schachbund 
erschwindelt." Mittlerweile nimmt Müller so etwas gelassen: "Das passiert. 
Das muss man ertragen."

Wie bei Riegler ist sein Sehvermögen nicht von Geburt an eingeschränkt, es 
wurde im Laufe der Jahre krankheitsbedingt immer schlechter. Lange versuchte 
er mit Tricks, seine Schwäche im Alltag auszugleichen. "Wenn man's sagt, 
kann man nicht mehr zurück. Man fühlt sich minderwertig." Auch Riegler, der 
mit seinem Mann in Bad Wörishofen ist, hat zunächst versucht, die Erblindung 
zu verdrängen. Doch irgendwann konnte er den Läufer trotz aller 
Anstrengungen nicht mehr erkennen. "Mich als Sehbehinderter zu outen, war 
schwerer als als Schwuler", sagt er. "Ich habe immer versucht, zu kämpfen." 
Wohl mit ein Grund dafür, dass er nach wie vor auch in zwei Schachvereinen 
für Sehende mitspielt. "Das bedeutet Integration. Da erfährt man Anerkennung 
und Respekt, das finde ich schön." Zum Turnier nach Bad Wörishofen kommt er 
schon seit vielen Jahren. "Das ist mein Wohnzimmer", sagt er in Anlehnung an 
Boris Becker.

Im Kursaal ist von Wohnzimmeratmosphäre nichts zu spüren. Matthias Steinhart 
sitzt leise murmelnd vor seinem Brett und liest mit den Fingern die Züge 
nach, die er abends mit dem Trainer besprechen wird. "Schach ist Schach", 
sagt der.

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